霧の中
師の声消えゆく
葉の落ちる。
Kiri no naka
shi no koe kieyuku
ha no ochiru.
In Nebels Mitte
des Meisters Stimme verhallt
Blättergeriesel.
Am Sonntag, den 6. Oktober 2024, verstarb im Alter von 89 Jahren Willy Frank Thiele (9. Dan Jūdō), Ehrenmitglied und ehemaliger Präsident des 1. DJC. Bis zuletzt kämpfte er mit ungebrochenem Lebenswillen gegen einen nosokomialen Keim, den er sich bei einem Krankenhausaufenthalt zugezogen hatte und gegen den kein Antibiotikum mehr wirkte.
Am 26. Mai 1935 in Wiesbaden geboren, kam Frank Thiele über seinen Vater Ferdinand Thiele, einen Jūdōka der ersten Stunde, zu der sein ganzes Leben prägenden japanischen Sportart, die der DJC im Jahr 1932, zehn Jahre nach seiner Gründung am 10. Oktober 1922, erstmals in Deutschland eingeführt hatte. Da Jūdō bereits seit 1933 von den Nationalsozialisten systematisch gefördert und ausgebaut wurde, verboten es die Alliierten nach dem Krieg zunächst von 1945 bis 1948. Ferdinand und Frank Thiele ließen sich indes nicht davon abhalten, die ihnen liebgewonnene Sportart mit Gleichgesinnten heimlich weiter zu trainieren. Nachdem Jūdō wieder zugelassen worden war, trainierten sie in den fünfziger Jahren sowohl in dem 1950 gegründeten Judo-Club Wiesbaden, der nichts mit dem früheren, dem Geist des Nationalsozialismus verschriebenen ersten Jiu Jitsu-Club Wiesbaden (gegründet im Dezember 1922) zu tun hatte, als auch in dem 1922 gegründeten Frankfurter DJC.
Im Laufe seines Lebens wurde Frank Thiele zu einem der besten Kenner des Jūdō in Deutschland und zu einem hervorragenden Jūdō-Trainer, der sich in vielfältigen Funktionen für die Entwicklung des Jūdō in Deutschland engagierte.
Einer der Gründer des DJC, Alfred Rhode, rief am 20. Dezember 1952 in Stuttgart das Deutsche Dan-Kollegium (DDK) ins Leben. Frank Thiele und sein Vater Ferdinand entwickelten für das DDK ein Prüfungsprogramm für Kyu- und Dan-Grade, das jahrzehntelang in Gebrauch blieb und entscheidend dazu beitrug, daß die europäischen Gürtelfarben für Anfänger, die es im japanischen Jūdō bekanntlich nicht gibt, zu einer hierzulande bekannten Marke wurden. Über viele Jahre engagierte sich Frank Thiele im Deutschen Dan-Kollegium e. V. sowie in dessen Vorstand, jahrzehntelang leitete er die Landesgruppe Hessen des DDK, aus der später das gleichfalls von ihm langjährig geleitete Hessische Dan-Kollegium als eigenständiger Verein hervorging, dem er zusammen mit seinen langjährigen guten Freunden Peter Gaber (8. Dan Judo, 4.12. 1941— 23. 9. 2022) und Rodolfo Rodolfi, beide Ehrenmitglieder und auch ehemalige Trainer und Vizepräsidenten des DJC, als Präsident vorstand.
Im Hessischen Judo-Verband war Frank Thiele über Jahrzehnte im Vorstand tätig und insbesondere für das Prüfungswesen zuständig. Von ihm geleitete Prüfungen liefen stets korrekt ab, kein Jūdōka wurde bevorzugt oder benachteiligt, weil er etwa aus einem bestimmten, manchen Prüfern mißliebigen Verein kam, allein die gezeigte Leistung zählte und wurde gewertet. Frank Thiele hielt viele Dan-Vorbereitungslehrgänge ab und lehrte auch alle Kata des Kōdōkan. Sein im Berliner Weinmann Verlag erschienenes Buch Kime-no-kata erlebte mehrere Auflagen.
Mehrere Jahrzehnte lehrte Frank Thiele am Zentrum für Hochschulsport der Goethe-Universität Frankfurt am Main Jūdō für Kyu-Grade und Dan-Träger und erteilte auch Unterricht in allen Kōdōkan-Kata. Er kannt sich im Jūdō theoretisch wie praktisch hervorragend aus und hatte in seiner Jugend zudem eine Reihe von Wettkampferfolgen erzielt. Eine Deutsche Hochschulmeisterschaft gewann er sogar mit gebrochenem Arm.
Beruflich als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater erfolgreich, war Frank Thiele stets bestrebt, japanisches Jūdō nach Deutschland zu bringen. Wer sich für das Jūdō interessiert, das Frank Thiele zeit seines Lebens zu vermitteln bestrebt war, kann einiges davon im Internet unter
www.thiele-judo.de
finden. Legendär sind die Lehrgänge mit Hirano-sensei (8. Dan), die er über viele Jahre in Hessen veranstaltete. Nach dem Tod des großen japanischen Jūdōka, den er sehr verehrte, kontaktierte er das Kōdōkan in Tōkyō und gewann Yamamoto-sensei und Sō-sensei zur Ausrichtung einer von ihm begründeten Jūdō-Sommerschule in Nieder-Roden, die in späteren Jahren zur Sommerschule des Hessischen Judo-Verbandes wurde. Während der ersten Jahre wurden die japanischen Trainer von Frank und Ursula Thiele umfassend betreut und auch an touristisch schöne Orte wie Heidelberg, die Loreley oder Rothenburg ob der Tauber gefahren.
Nicht nur im Jūdō legte Frank Thiele Wert auf Qualität, auch für das hessische Schulsystem und dessen pädagogische Irrwege hatte er einen guten Blick und ließ seinem Sohn Damian daher eine solide humanistische Ausbildung mit grundständigem Lateinunterricht an einem traditionsreichen Frankfurter Gymnasium zuteil werden, zu dem Uschi Thiele ihn täglich aus Urberach fuhr und wieder abholte. Seine Tochter Kerstin, eine studierte Gymnasiallehrerin mit den Fächern Englisch und Deutsch, verstarb leider jung an den Langzeitfolgen einer wohl durch eine Zoonose ausgelösten seltenen Krankheit.
Dem 1. DJC war Frank Thiele über viele Jahrzehnte bis zu seinem Tod verbunden. Er fungierte sowohl als Vizepräsident als auch als Präsident des Vereins, unterrichtete (zusammen mit seiner Frau Ursula Thiele, die auch als Schatzmeisterin des DJC tätig war) bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts Kinder und Jugendliche in einem Gymnastiksaal des Textorbads in Sachsenhausen sowie in der Halle der Fürstenbergerschule im Nordend und war angesehenes Ehrenmitglied des Vereins. Daneben war er auch in anderen Vereinen im Rodgau als Jūdō-Trainer erfolgreich tätig. Drei unserer Jūdō-Trainer legten noch vor einigen Jahren ihre Prüfung zum 1. Dan vor einer von ihm geleiteten Prüfungskommission des Hessischen Dan-Kollegiums ab und waren von seiner auch auf Lehrgängen gezeigten Fachkompetenz im Jūdō hellauf begeistert.
Als Frank Thiele dreiundsiebzig Jahre alt war, «starb» er ein erstes Mal bei einem nicht von ihm verschuldeten Autounfall. Er konnte nach minutenlangem klinischen Tod ohne geistige Schäden erfolgreich wiederbelebt werden, was er auf sein zweites Hobby, das Tauchen, zurückführte. Zunächst mit durchtrennten Nervenbahnen des Rückgrats vollständig gelähmt, aber geistig präsent, gab er sich mit der Diagnose der Ärzte, nie wieder laufen zu können, nicht zufrieden. Dank dem unermüdlichen Einsatz seiner Frau Uschi, die dafür sorgte, daß er über viele Monate in einem Umfang passiv bewegt wurde, der weit über das in Deutschland medizinisch Übliche hinausging, und seiner unbeugsamen Willenskraft geschah ein medizinisches ‘Wunder’, das keiner der behandelnden Ärzte für möglich gehalten hatte: Die durchtrennten Nervenstränge wuchsen über die Monate allmählich wieder zusammen, und Frank Thiele konnte, wenn auch nicht in derselben Qualität wie zuvor, auf einmal wieder laufen und seine Arme und Hände wieder bewegen, sogar auf einer Rechnertastatur schreiben. Als ihn einige Ärzte im Krankenhaus aufsuchen und das ärztlicherseits unerwartete Ereignis begutachten wollten, trafen sie ihn im Flur an, als er gerade auf einen Rollator gestützt seine täglichen Gehübungen machte. Frank Thiele ließ den Griff des Rollators los, winkte den Ärzten zu, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Als die Ärzte sahen, wie er instinktiv eine Fallübung rückwärts ausführte und dabei völlig unverletzt blieb, war ihr Erstaunen noch größer. Einen Patienten mit solchen Fähigkeiten und einer derart unbändigen Willenskraft hatten sie zuvor wohl noch nie kennengelernt.
Frank Thiele konnte nach diesem Unfall die meisten Jūdō-Techniken nicht mehr selbst ausführen, aber von Schülern unter seiner kundigen Anleitung vorzeigen lassen. Er besaß eine große Gabe, Jūdōka jeden Alters motorische Bewegungsabläufe sehr gut zu erklären und zu korrigieren. Hinzu kam ein phänomenales Gedächtnis, mittels dessen er Techniken, die er etwa bei Opa Schutte in den Niederlanden oder von Alfred Rhode, dem Gründer des DJC, gelernt hatte, ebenso wie Spezialtechiken seines verehrten Lehrers Tokyo Hirano (8. Dan, 6. 8. 1922 — 27. 7. 1993) exzellent zu erläutern und zu lehren vermochte. Sehr viele Jūdōka aus Deutschland und anderen Ländern hat Frank Thiele Jūdō gelehrt, und insbesondere bei vielen Kindern und Jugendlichen verstand er eine lebenslange Begeisterung für den Jūdō-Sport zu wecken.
Frank Thiele hat die Jūdō-Werte in seinem langen Leben authentisch verkörpert. Er war stets ehrlich und zuverlässig, geradlinig und charakterstark, ein Mann von Ehre und Würde, auf dessen Wort man sich unbedingt verlassen konnte, treffsicher in seinem Urteil, hart in der Sache, wenn es denn sein mußte, mutig und entschieden in Auseinandersetzungen, wenn sich diese nicht vermeiden ließen, gelegentlich auch humorvoll und zu einem Spaß aufgelegt, aber stets höflich, respektvoll, hilfsbereit, bescheiden gegenüber seinen Jūdō-Lehrern und freundlich im Umgang. Zu seinem Freundes- und Schülerkreis zu gehören war eine Ehre. Nur zwei Jahre jünger als das deutsche Jūdō, hat er die Entwicklung des Jūdō in Deutschland und insbesondere in Hessen jahrzehntelang entscheidend geprägt.
Mit Frank Thiele ist einer der Gründerväter des deutschen Jūdō und eine herausragende Gestalt der deutschen Jūdō-Geschichte von uns gegangen, vor dessen ehrwürdigem Andenken wir uns ehrfürchtig und in dankbarer Erinnerung verneigen. Seiner Gattin Uschi Thiele und seinem Sohn Damian Thiele gilt unsere tiefempfundene Anteilnahme.
さようなら、フランク先生。素晴らしい先生を感謝の気持ちとともにいつまでも忘れません。
Frankfurt am Main, den 10. Oktober 2024
Prof. Dr. Axel Schönberger
(Präsident des 1. Deutschen Judo-Clubs Frankfurt am Main e. V.)